
Musik oder Nichts
»Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.« Der wohl zweitmeistzitierte Satz im Werk Friedrich Nietzsches beschwört eine düstere Vision. Aber ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln gibt jetzt Entwarnung. »Musik oder Nichts« lautet das Motto. Wo keine Musik ist, da ist nichts, also auch kein Platz für Irrtümer. Und wo nicht nichts ist, muss dann Musik sein, und sei es nur in feinsten Spurenelementen von Tönen, Klängen und Geräuschen. Wir müssen nur unsere Hörgewohnheiten verfeinern, um dessen gewahr zu werden. Helmut Lachenmann, selbst mit mehreren Werken im diesjährigen Festivalprogramm vertreten, brachte es auf den Punkt: »Es gibt keine neuen Klänge, es gibt eine neue Art zuzuhören.« Die Tableaus eines Mark Rothko nennt die Porträt-Komponistin Rebecca Saunders eine wichtige Inspirationsquelle für ihre Musik, wie dort auf monochromen Farbflächen der Zauber feinster Schattierungen zum Ausdruck kommt. Und zum anderen ist da die Literatur, insbesondere Samuel Beckett, an dem Saunders nachhaltig »das Ausfiltern von allem Überflüssigen, bis zu einer absolut reduzierten Klangpalette wiederholter Wörter « beeindruckt hat. Die britische Schauspielerin Billie Whitelaw erzählte einmal von einer beispielhaften Begebenheit mit Samuel Beckett. Während der Proben zu einem seiner Stücke stand der Autor eine Weile nachdenklich über den Text gebeugt, bis er sich dann an sie wandte mit der Bitte, an einer Stelle doch das Komma durch ein Semikolon zu ersetzen. Ähnlich minutiös, ähnlich differenziert und feinfühlig handhabt Saunders das Innenleben eines Klangs. Ihre Partituren gleichen Expeditionen in akustische Mikrosphären, legen Klangnuancen frei, wie bei einer anatomischen Präparation, um daraus neue kompositorische Konzepte, Spiel- und Artikulationstechniken entlang des magischen Moments zu entwickeln, wenn aus der Stille ein Klang aufsteigt, aus dem Nichts Musik entsteht. Damit befindet sich Saunders in bester Gesellschaft, etwa mit dem Klangkosmologen Gérard Grisey in dessen »Les espaces acoustiques«, mit György Ligetis Orchesterklang »höherer Ordnung « in »Atmosphères« oder mit Morton Feldmans »Samuel Beckett, Words and Music«. Aber wie immer ist das Programm um die zentralen Leitgedanken weit gefasst. Da hat auch Giacomo Leopardi seinen Platz, italienische Geistesgröße des 19. Jahrhunderts und Protagonist einer Choroper von Lucia Ronchetti. Oder Sir George Benjamin, Ikone des neuen Musiktheaters, mit seinen »Lessons in Love and Violence«. Bei über 50 Veranstaltungen innerhalb von zehn Tagen stehen 34 neue Werke zur Uraufführung, auch an unkonventionellen Spielstätten wie etwa Baptisterium, Senftöpfchen Theater, Lagerstätte für mobile Hochwasserschutzelemente und erstmals auch dem Rheingartenfoyer in der Kölner Philharmonie, in Szene gesetzt von leidenschaftlichen Experten für die spezifischen Belange zeitgenössischer Musik. Freuen darf man sich auch auf bewährte Formate wie den ACHT BRÜCKEN Lunch als kostenlosen Appetizer für das Konzertmenü am Abend, den traditionellen Kompositionswettbewerb, die ACHT BRÜCKEN Lounge im Festivalzelt und natürlich den ACHT BRÜCKEN Freihafen am Maifeiertag; ein beispielloses Angebot für Musikenthusiasten und Gelegenheitsinteressierte, über einen ganzen Tag hinweg ein breites Spektrum neuester Musik zum Nulltarif zu entdecken. Das Ohr dürfte dabei jede erdenkliche Anregung erfahren. Aber wie klingt nun das Komma im Vergleich zum Semikolon? Ist der kleine Punkt zu hören, der den Unterschied macht? Das menschliche Trommelfell registriert eine Bewegung von der Größe eines einzelnen Wasserstoffatoms. Das entspricht einer Auslenkung vom Durchmesser eines Stecknadelkopfes auf der Fläche eines Fußballfeldes. Also quasi nichts.

Poträtkomponistin Rebecca Saunders
Die Haut der Stille aufreißen - Rebecca Saunders im Gespräch mit Leonie Reineke
Rebecca, gab es einen Zeitpunkt in deinem Leben, an dem du festgestellt hast, dass Musik auch anders klingen kann als das klassisch-romantische Kernrepertoire, Pop oder Jazz?
Das ist eine gute Frage, denn ich habe darauf keine einfache Antwort: Ich bin in einer Musikerfamilie aufgewachsen und für mich war alles Musik, was ich dort gehört und erlebt habe. Im Mittelpunkt stand das Klavier. Mein Vater hat zuhause viel Jazz gespielt, in der Schule gab es eine Dub- und Reggae-Band, ich selbst habe klassisches Ballett getanzt und meine Schwester ist Jazz-Komponistin und Sängerin. Und gerade in den 1970er Jahren hat mein Vater viel neue Musik gemacht. Ich erinnere mich daran, dass er oft sonderbare Dinge in den Flügelkorpus gelegt hat. Insofern gehörten das Experimentieren und Spielen mit Klängen für mich schon immer zum Leben dazu. Wann aus diesem Spielen bei mir selbst Komponieren geworden ist, kann ich nicht genau datieren. Aber ich hoffe, dass ich immer noch spiele. Und was wir heute als »zeitgenössische Musik« bezeichnen, ist so tief in unserer Gesellschaft verankert – natürlich klingt das anders als zum Beispiel Mozarts Werke. Denn sein akustisches, emotionales, wirtschaftliches und politisches Umfeld war ja auch ein völlig anderes. Aber in diesem Umfeld schrieb er damals seine zeitgenössische Musik.
Dein Weg zur zeitgenössischen Musik verlief also sehr unmittelbar, vielleicht auch unmerklich. Aber für viele andere Menschen ist Gegenwartsmusik erst einmal ein Fremdkörper. Die meisten von uns haben sie noch nicht als Kinder entdeckt, sondern zu einem Zeitpunkt, an dem die Vorstellung davon, was Musik ist, schon recht stark geprägt war. Du selbst musstest nicht erst mühsam lernen, dass Musik nicht ausschließlich den makellosen, »gezähmten« Schönklang bedeutet. Denn du betrachtest Klang schon lange als »physikalische Gegebenheit« mit gestischen, haptischen, mit kinetischen Qualitäten. Trotzdem ist das nicht die naheliegendste Art, Klang wahrzunehmen, oder?
Wenn du in den Club gehst und tanzt, ist das doch auch ein extrem körperliches Erlebnis! Vielleicht sind in solchen Momenten Geist und Körper für eine Weile vereint. Nicht anders ist es in der Kirche – schon seit Jahrhunderten. Wenn man dort die große Orgel hört, spürt man das mit dem ganzen Körper. Man wird physisch und geistig bewegt, vielleicht sogar überwältigt. Ich glaube, wir vergessen manchmal, dass Musik etwas Plastisches ist, das mit allen Sinnen wahrgenommen werden kann.
Wenn du dann selbst ein Stück Musik komponierst, schreibst du auf, was du hören willst, oder gehst du erst einmal von etwas anderem aus: einem Konzept, einer körperlichen Geste, einer bestimmten Musikerpersönlichkeit?
Das ist sehr unterschiedlich und hängt vom jeweiligen Werk ab. Generell kann ich sagen, dass es jedes Mal eine Herausforderung sein muss. Es muss ein großes unbekanntes Element geben, eine Fragestellung und eine Suche, eine Recherche. Natürlich – wenn man schöpferisch arbeitet, kann man nicht genau wissen, was am Ende herauskommt. Sonst würde die schöpferische Arbeit keinen Sinn ergeben. Ich möchte als Komponistin mit meiner Neugier arbeiten und natürlich sollte auch das Publikum die Bereitschaft haben, sich auf etwas Unbekanntes einzulassen. Es geht darum, dem möglicherweise Fremden mit Offenheit und Toleranz zu begegnen. Und darin besteht dann vielleicht doch ein gewisser Unterschied zu älterem Repertoire: Wenn ich in ein Konzert mit Musik von Mozart gehe, kann ich voraussehen, was mich erwartet. Aber als Schöpfer wie als Rezipient von etwas Neuem kann ich das nicht.
Vielen deiner Kompositionen stellst du kurze Texte zur Seite. Das können Lexikonartikel sein, Wortdefinitionen zum jeweiligen Werktitel, Lyrik von Samuel Beckett oder auch selbstgeschriebene Zeilen, die den skelettartigen Texten von Beckett nicht unähnlich sind. Immer aber sind sie als Assoziationen, als weiterführender Lesestoff zu verstehen und nicht als konkrete Erläuterung oder Inhalt deiner Stücke. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist meine Frage: Handelt deine Musik von etwas, oder handelt sie einfach vom Musikmachen selbst?
Ich denke, dass in Musik eine magische Art steckt zu kommunizieren, miteinander zu sprechen. Sie ist ein Diskurs auf einer tieferen Ebene, auf die man im alltäglichen Leben vielleicht selten Zugriff hat. Und deshalb ist es so wichtig für unsere Kultur, dass eine Kunstform wie die Musik existiert. Denn sie spricht mit uns und wir sprechen durch sie miteinander. Natürlich handeln meine Stücke von etwas – ob es das Vergängliche ist, eine bestimmte physische Situation oder ein emotionaler Zustand. Aber das sind oft unbenennbare Dinge, die sich nur schwer verbalisieren lassen. Deshalb schreibe ich ja Musik. Peter Brook hat das in seinem Buch »The Empty Space« wunderbar ausgedrückt: »The musician is dealing with a fabric that is as near as man can get to an expression of the invisible«.
Ja, die Musik fängt oft da an, wo die Sprache versagt. Dazu passt vielleicht auch das Festivalmotto von ACHT BRÜCKEN 2023 »Musik oder Nichts«. Gerade die Stille scheint in vielen deiner Stücke eine besondere Rolle zu spielen. Sie ist nicht bloß Pause, sondern wirkt oft wie eine bewusste Setzung und hat manchmal fast etwas Gestalthaftes. Was interessiert dich an Stille?
Stille kann etwas sehr Gesättigtes haben. Die Abwesenheit von Klang ist überwältigend, sie ist voll mit Potenzial – wie eine leere Leinwand, der man mit Millionen von Entscheidungen begegnen kann, bis irgendwann ein Bild entsteht. Früher habe ich mir vorgestellt, dass ich beim Komponieren die Musik wie einen Faden aus der Stille herausziehe, den ich irgendwann wieder in ihr verschwinden lasse. Oder aber die Musik bricht aus der Stille heraus, wie eine plötzliche weberneske Gestalt, ein Kurtág-Moment oder eine Xenakis-Explosion am Beginn eines großartigen Orchesterwerkes. Über die Jahre hat sich meine Denkweise natürlich weiterentwickelt. Inzwischen stelle ich mir gerne vor, dass die Stille eine Haut ist, die ich aufreiße und meine Hände in all die Klänge darunter eintauche. Denn das Komponieren ist nicht nur geistige Arbeit, sondern auch ein sinnliches Erlebnis. Und das wiederum kommuniziert sich an die Musiker und das Publikum weiter. Wenn ein Instrumentalist meine Musik spielt, dann fühlt man diese physischen Kräfte auf der Bühne, den Menschen und seinen Körper, der die Musik zum Klingen bringt.
In einigen deiner Stücke bekommt man den Eindruck, einzelne Klanggestalten oder Miniaturen sind bewusst in Stille gesetzt und werden von ihr gerahmt. Die Klänge sind wie futuristische Skulpturen; sie sind Wesen, die aus mehreren Gesten und Klangfarben bestehen, die ineinander übergehen – Energieflüsse, die sich in verschiedene Richtungen hin entladen. Diese Plastizität findet sich aber nicht ausschließlich im übertragenen Sinne in deinen Stücken, sondern auch als reales Objekt in deiner Werkreihe »Myriad I – III«: Da sehen wir eine große Plexiglaswand, aus der 2464 nebeneinander angeordnete Aufziehschlüssel von Spieldosen herausragen. Die Wand sieht ein bisschen aus wie eine Mischung aus Spindschranksystem und Science-Fiction- Monolith, der direkt aus dem Weltraum auf der Erde gelandet sein könnte.
»Myriad« ist zunächst als Klanginstallation für die Architekturbiennale 2015 in Shenzhen entstanden. Es ist aus einer Zusammenarbeit mit dem Büro für Landschaftsarchitektur TOPOTEK 1 und Martin Rein-Caro hervorgegangen. Die Spieldosen in dieser riesigen brutalistischen Wand stammen alle aus China – aus der Region, in der die Biennale stattfand. Sie beherbergen ganz verschiedene Melodien: von Volksliedern über Nationalhymnen bis hin zu traditioneller klassischer Musik. Die Spieldosenwand wird dann von Musikern bespielt und mit verschiedenen Solound Duostücken kombiniert, die von im Raum verteilten Instrumentalisten gespielt werden. Am Ende ist auch das Publikum eingeladen, selbst vor die Wand zu treten und die Schlüssel zu drehen. Mir gefällt dabei der Widerspruch zwischen diesen schönen, alten Instrumenten, aus denen mal sanfte, mal explosive, expressive Musik erklingt und gleichzeitig dieser leisen, zarten Musik, die aus dem installativen Objekt dringt. So entsteht eine große Gesamtcollage mit starken Kontrasten.
»Myriad III« wird bei ACHT BRÜCKEN als Uraufführung zu erleben sein. Genauso auch der dritte Teil deines »Triptychons«. Was verbindet das neue Ensemblestück in diesem »Triptychon« mit dem ersten Teil »Skin« für Sopran und 13 Instrumente und dem zweiten, »Scar« für 15 Solisten und Dirigenten?
Das neue Werk ist gewissermaßen die Suche nach einer formalen Antwort auf die ersten beiden. Es gibt darin Klänge, die sich auf »Skin« und »Scar« beziehen, und trotzdem ist das Stück sehr anders als die zwei ersten …
… was ja schon die unterschiedlichen Besetzungen erkennen lassen. In »Skin« zum Beispiel ist eine Stimme dabei – also ein Instrument, das nicht nur rein musikalische Klänge produziert, sondern das auch Laute, Sprache oder eine konkrete Botschaft vermitteln kann.
Ja, deshalb habe ich auch lange gezögert, bevor ich für Stimme komponiert habe. Denn wenn man in der Musik mit Text arbeitet, besteht die Gefahr, dass sich den Hörern eine bestimmte Aussage zu sehr aufdrängt. Und ich möchte niemandem vorschreiben, was er fühlen oder denken soll. Die Musik ist immer erst einmal ein Angebot zu kommunizieren oder Anknüpfungspunkte zu finden. Was ich aber wahnsinnig faszinierend an der Arbeit mit einer Sängerin finde, ist die Tatsache, dass ein offensichtlich menschlicher Diskurs auf der Bühne stattfindet. Die Sopranistin braucht nur eine Augenbraue leicht zu heben und das Stück hat schon begonnen. Wenn man mit Sängern arbeitet, kann sich ein berührendes emotionales Potenzial entfalten. Und als Publikum erleben wir das als besonders intensiv. Denn es gibt – mal abgesehen von Aufnahmen – keine Stimme ohne Körper. Wir nehmen ganzheitlich wahr. Deshalb betrachte ich die Musiker, für die ich schreibe, auch als Protagonisten. Ich bin mir bewusst, dass sie Menschen sind – diese fehlbaren, humanen Wesen, die mit all ihrem Einsatz auf der Bühne präsent sind.
Rebecca Saunders Konzerttermine:


Rebecca Saunders: Myriad III
FRI | 28. Apr | 18:00 | Kunst-Station Sankt Peter

Rebecca Saunders: Myriad III
SAT | 29. Apr | 14:00 | Kunst-Station Sankt Peter

Rebecca Saunders: Myriad III
SAT | 29. Apr | 15:30 | Kunst-Station Sankt Peter

Rebecca Saunders: Stirrings Still
SUN | 30. Apr | 11:00 | WDR Funkhaus am Wallrafplatz

Rebecca Saunders Triptychon I & II
MON | 1. May | 19:00 | Kölner Philharmonie

Rebecca Saunders Triptychon III
MON | 1. May | 20:30 | Kölner Philharmonie

UnBREATHed
WED | 3. May | 20:00 | Kölner Philharmonie

traces
FRI | 5. May | 20:00 | Kölner Philharmonie

Rebecca Saunders: Void
SAT | 6. May | 12:00 | Hochschule für Musik und Tanz Köln
